Guten Tag Frau Dr. Nibel. Möchten Sie zuerst kurz etwas zu Ihrer Person und Ihrem persönlichen Werdegang erzählen?
Schon als Kind habe ich gespürt, dass es einen Zusammenhang geben muss zwischen seelischem und körperlichem Befinden, und später, mit Beginn meines Psychologiestudiums, habe ich dann auch viel über systematische Zusammenhänge zwischen Körper und Geist erfahren, insbesondere durch meine Professoren Birbaumer und Revenstorf an der Uni Tübingen.
Damals standen nur wenige Messverfahren zur Verfügung, um diese Zusammenhänge aufzuzeigen, und die Messungen waren teilweise extrem aufwendig, aber immerhin war es ein Thema der wissenschaftlichen Forschung geworden.
Inzwischen weiss man sehr viel mehr, wie mit den unterschiedlichen körperorientierten Verfahren das seelische Wohlbefinden positiv beeinflusst werden kann, und diese Ideen werden zunehmend auch mehr akzeptiert … aber um wirklich nachhaltige Verbesserungen zu erreichen, muss man trotzdem einige Zeit regelmässig üben.
Während des Studiums hatte ich meditiert, in den Semesterferien TaiChi gelernt und dann auch jahrelang praktiziert … aber für “Normalos” in unserer kapitalistischen Gesellschaft ist dieser Aufwand von Willenskraft und Zeit schwer zu realisieren. Durch meine Studienschwerpunkte Verhaltensmedizin und Interventionstechniken habe ich dann Methoden kennen gelernt, mit denen Körperbeschwerden sehr viel zielgerichteter als mit TaiChi und Meditieren beeinflusst werden können, z.B. Biofeedback oder Hypnose, aber auch diese viel bequemeren Methoden finden – trotz ihrer hohen Wirksamkeit – wenig Verbreitung … und irgendwann bin ich dann bei meiner Suche nach leicht anwendbaren “Psycho-Techniken” auf das neurogene Zittern gestossen.
Was motiviert Sie besonders bei Ihrer täglichen Tätigkeit?
Zu erfahren, dass man mit diesen einfachen Methoden in ein bis zwei Stunden eine deutliche Verbesserung des Befindens erreichen kann, Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten stärken und Optimismus wecken kann. Im besten Fall verändert das das Lebensgefühl deutlich zum Positiven, aber auch schon kleine Verbesserungen sind hilfreich, und stärken Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit und Zuversicht, so dass Zeiten mit lähmenden Ängsten und Gefühle von Hilflosigkeit weniger werden. Am schönsten für mich ist es, wenn KlientInnen nach Wochen oder Monaten erzählen, welche „Psychotricks” sie weiterhin in welchen Situationen für sich anwenden.
Seit wann beschäftigen Sie sich mit Neurogenem Zittern und TRE® bzw. Trauma Releasing Exercises und was genau bewirkt es?
Ich habe 2011 von den TRE Tension and trauma Release Exercises eher zufällig in einem Internet-Forum für PsychotherapeutInnen erfahren, und fand die Idee so interessant, dass ich mich sofort für die Ausbildung angemeldet habe. Die erste spürbare Wirkung der TRE ist der verbesserte Schlaf: leichtes Einschlafen, weniger Durchschlafprobleme, weniger Alpträume, erholsamer Schlaf, so dass man sich danach ausgeruht und fit fühlt. Mit der Zeit verändert sich das Körpergefühl zum Positiven, weniger Schmerzen, bessere Stimmung. Und das ist auch völlig plausibel. wenn ich gut schlafe und ausgeruht aufwache, kann ich das Frühstück geniessen und bin zuversichtlich, dass ich die Alltagsaufgaben mühelos bewältigen kann.
Für Menschen mit einer mehr oder weniger unkomplizierten Kindheit und Jugend und ohne existentielle Bedrohungen ist das eine Selbstverständlichkeit – aber Menschen mit vielen Erfahrungen von seelischer und körperlicher Gewalt oder Vernachlässigung sind entweder hypersensibel und empfinden Sinneseindrücke viel öfters als schmerzhaft oder sie empfinden nichts und erleben sich wie betäubt. Beides macht das Leben anstrengend und unberechenbar.
Können Sie – für Nicht-Mediziner – erklären, was bei neurogenem Zittern im menschlichen Körper passiert?
David Berceli geht davon aus, dass sich durch intensive oder lang anhaltende Stressbelastung der Psoasmuskel verspannt. Das ist ein Muskel, der die Wirbelsäule mit dem Becken verbindet und sich bei Stress zusammenzieht, das heisst wir beugen uns im Stehen nach vorne, unsere Körperhaltung wirkt eher gebückt – in den Zeiten, als wir noch körperlich gegen unsere Feine gekämpft haben überlebensnotwendig, um unsere inneren Organe vor Verletzungen zu schützen. Mit den 7 TRE-übungen wird dieser Psoas-Muskel indirekt angespannt oder gedehntt, und verändert damit auch die Körperhaltung, das gesamte Körpersystem aus Knochen, Muskeln und Bindegewebe, und löst damit mehr oder weniger intensives Schütteln oder Zittern aus, manchmal auch nur ein feines Vibrieren oder ein Gefühl von Fliessen oder Strömen, oder auch Kälteempfindungen, Wärme oder gar Hitze.
Der Psoasmuskel kann nur indirekt aktiviert oder entspannt werden, weil er nicht wie andere Muskeln direkt unter der Haut liegt, sondern im Körperinnern.
Dieser Psoasmuskel hat in den letzten Jahren auch eine steile Karriere als “Seelenmuskel” oder “Heiler” gemacht, als Schlüssel zum Wohlbefinden. Insbesondere wurde auch aufgezeigt, wie verschiedene Yoga-Übungen diesen Psoasmuskel systematisch ansprechen – aber nach wie vor bleibt unser Wohlbefinden doch auch ein bisschen geheimnisvoll, und viel Üben macht nicht automatisch glücklicher oder gesünder.
Für welche Krankheitsbilder und Symptome ist Neurogenes Zittern bzw. TRE® bzw. Trauma Releasing Exercises besonders geeignet?
Der Entwickler der TRE, Dr. David Berceli, hat die Übungen für traumatisierten Menschen in Krisenregionen entwickelt, um ihnen eine einfache Möglichkeit der Selbsthilfe und Selbstheilung zur Verfügung zu stellen. Auch wenn Menschen im Herzen Europas normalerweise nicht unter Kriegstraumata leiden, so gibt es doch erschreckend viele Menschen unter uns – unabhängig von sozialer Schicht oder Bildung, die mit seelischer und körperlicher Gewalt aufgewachsen sind, oder vernachlässigt wurden oder wohlstandsverwahrlost sind. Diese unsicheren menschlichen Bindungen schlagen sich in einer chronischen körperlichen Überaktivierung nieder, die sich auf unterschiedlichste Art zeigen kann: als Schlafstörungen, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Verdauungsprobleme, Allergien oder Schmerzen. Bei all diesen Gesundheitsstörungen sind die TRE gut wirksam; genauso wirksam wäre auch tägliches Meditieren, progressive Muskelrelaxation, autogenes Training, Yoga oder Bio- und Neurofeedback … aber TRE ist deutlich weniger aufwendig oder anstrengend, kann fast überall durchgeführt werden; man muss sich nicht an belastende oder schmerzliche Erfahrungen erinnern, braucht keine Hilfsmittel und man muss die Übungen auch nicht besonders schön oder perfekt machen, und kann nebenher auch Musik hören oder oder telefonieren usw.
Dieser Vorteil ist aber gleichzeitig auch ein Nachteil, weil der Placeboeffekt eher klein ist, d.h. so eine bescheidene Methode kann wahrscheinlich nicht so grosse Heilserwartungen wecken wie Operationen oder teure Medikamente. Was sind schon 7 einfache Körperübungen gegen chronische Rückenschmerzen, die man selbstverantwortlich durchführen muss, wenn man stattdessen eine teure Bandscheibenoperation bekommen kann oder opiathaltige Schmerzmittel? Dazu die Aufmerksamkeit und Zuwendung von hochbezahlter SpezialistInnen im Gesundheitswesen in Spezialkliniken. Wer könnte auf soviel narzisstische Selbstbeweihräucherung verzichten? Vermutlich deshalb kommen auch viele “Austherapierte” zu TRE, die schon Vieles probiert haben, oft auch lange Psychotherapien hinter sich haben, und sich erst nach diesem körperorientierten Verfahren vollständiger, heiler oder gesünder erleben.
Welches Potential hat aus Ihrer Sicht das ressourcenschonende Auflösen chronischer Stressreaktionen in der Bevölkerung?
Theoretisch ein riesiges Potential, weil die Übungen wirklich sehr einfach zu erlernen sind, und die meisten von uns zumindest einige dieser Übungen schon aus dem Sportunterricht oder Fitnesskursen kennen. Es ginge also nur noch darum, die Übungsreihe zu erlernen, die aber sehr systematisch aufgebaut ist, von den Fusssohlen bis zum Kopf, und daher auch sehr leicht erlernt werden kann.
Wenn das Potential der TRE entfaltet würde, würden Heerscharen von Schmerz- und anderer TherapeutInnen arbeitslos werden ;-(
wir erleben das derzeit an einer kleinen Gruppe von Fibromyalgiepatientinnen mit ihren seit Jahren chronifizierten Schmerzen und Bewegungseinschränkungen, deren sich Lebensqualität sind schon nach wenigen Übungsstunden deutlich verbessert hat.
Ganz abgesehen von der Verbesserung negativer Zustände können die TRE auch eingesetzt werden, um die eigene Leistungsfähigkeit zu verbessern. Insbesondere SängerInnen und MusikerInnen mit Blasinstrumenten können damit Ihr Atemvolumen steigern, möglicherweise haben die TRE auch noch ganz subtile Effekte, wenn es um die Koordination all dieser winzigen Muskeln und Nervenfasern geht, die unser Sprechen, Singen und Hören beeinflussen. Beispielsweise gibt es diesen Muskel im Mittelohr, den Musculus stapedius, den wir anspannen, wenn wir uns auf die Stimmen unserer Mitmenschen konzentrieren und so besser verstehen und den Umgebungslärm wirksamer ausfiltern können – damit können wir das Gehörte um 10 – 20 dB verstärken, gegen die anderen Geräusche. Da erklärt vermutlich auch die Verbesserung der sozialen Beziehungen, von den viele Befragte in meiner ersten Wirksamkeitsstudie berichtet haben.
Haben Sie für unsere Leser, die nun neugierig geworden sind, wie sie es zuhause ausprobieren können?
Schauen Sie sich unser kostenloses Youtube-Video an. Es ist in 22 Sprachen untertitelt, um die Übungen möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen:
Wem das zu umständlich ist, der kann sich unsere App Neuro-Zittern für 5 Euro kaufen. Damit können die einzelnen Übungen direkt ausgewählt werden, und man kann sie so lange ausprobieren, bis es sich gut und richtig anfühlt. In der App gibt es auch ein Tagebuch, um die Erfahrungen mit den Übungen zu protokollieren und so Veränderungen des Körpergefühls besser beobachten und verstehen zu können.
Alle Informationen rund um dieses Thema stellt Frau Dr. Nibel allen Interessierten auf Ihrer Website zur Verfügung: https://www.neurogenes-zittern.eu
Aber das Beste ist, eine TRE-Gruppe zu finden, und ein paar Mal in einer Gruppe zu üben. So kann man Erfahrungen austauschen, besser verstehen, was im eigenen Körper passiert und sich gegenseitig zum regelmässigen Üben motivieren.
Möchten Sie unseren Lesern noch etwas mit auf den Weg geben?
Schüttelt Euch frei 😉
Aber macht Euch auf keinen Fall Leistungsdruck, indem Ihr besonders viel und besonders intensiv übt. Aufgrund der Diskussionen in Facebook-Gruppen gehe ich davon aus, dass Menschen, die sich besonders schnell von alten Schmerzen und Belastungen befreien wollen, plötzlich wieder Gesundheitsbeschwerden haben, die sie früher hatten, Migräneanfälle bekommen oder irgendwelche neuen Symptome, die sie im Extremfall so verunsichern, dass sie einen Arzt aufsuchen … der dann auch nicht erklären kann, wo das plötzlich herkommt. Eine Klientin, die bei einer noch unerfahrenen TRE-Providerin war, hat zu Hause spontan gezittert, und war so verunsichert, dass sie wieder zurück in die psychiatrische Klinik gegangen ist, aus der sie erst kürzlich entlassen worden war; nach kurzer Beobachtung wurde sie dann glücklicherweise wieder nach Hause geschickt.
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Eine meiner Klientinnen ist nach einem Intensiv-Training am Wochenende am nächsten Morgen aufgewacht, und ihr Körper hat sich dann ca. eine Stunde lang geschüttelt, ohne dass sie das beeinflussen konnte (oder wollte). Danach ging es ihr körperlich so gut wie schon lange nicht mehr. Aber grundsätzlich mag ich solche Befreiungsschläge und Gewaltakte nicht gerne. Lieber langsamer und schonender – auch wenn das total uncool, langweilig und unsexy ist.
Liebe Frau Dr. Nibel, vielen Dank für dieses informative Interview und die Zeit, die Sie sich dafür genommen haben!
(Bild-Quellennachweis: Alle Bilder wurden freundlicherweise von Frau Dr. Nibel bereitgestellt)
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